Die Dorfschule

Heinrich Prigge, Schullehrer in Lehnstedt von 1918 - 1960 schrieb in der Lehnstedter Chronik:
Akten sind von der Schule nur wenig vorhanden. Die schriftlichen Überlieferungen beginnen mit der Niederschrift zur Wahl der Schulvorsteher vom 8. Dez. 1849. Lehnstedt bildete damals mit Seedorf eine Schulgemeinde. Der Vorsitzende dieses Schulvorstandes war der Pastor von Bramstedt, denn trotzdem um etwa 1250 schon die Kirche in Wulsbüttel erbaut war, waren Lehnstedt und Seedorf als die ältesten Siedlungen hier natürlich auch eingepfarrt in die älteste Kirchengemeinde, nämlich Bramstedt. Erst im Jahre 1868 hörte diese Bindung auf und Lehnstedt wurde ein Teil der Kirchengemeinde Wulsbüttel. Bis dahin führte der Pastor von Bramstedt den Vorsitz des hiesigen Schulvorstandes. Wahlprotokolle sind auch noch aus den Jahren 1852 und 1856 erhalten. In dem Protokoll von 1849 tritt schon der Name des Lehrers Joost auf. Ein Schulhaus gab es hier damals noch nicht. Das Schullokal wurde der Reihe nach von den Besitzern gestellt, dazu gehörte dann auch noch ein Wohnraum für den Lehrer. War er verheiratet, mußte er sich eine Wohnung mieten, wie es hier auf Seite 172 von Lehrer Joost gesagt wird. Es wird hier noch heute erzählt, daß in dem Haus Nr. 7a vor dem Schulbau sich zeitweise das Schullokal befunden hat. Ebenso soll auf der jetzigen Stelle Nr. 14 ein Nebengebäude, das später dann Schmiede war, als Schulraum gedient haben. Der Lehrer wurde im Reihetisch beköstigt, die Bauern verpflegten ihn der Reihe nach.
Vor Joost sollen hier Viohl, Heißenbüttel, Nührenberg und Sandhusen hier tätig gewesen sein. Genaueres ist über diese vier Männer nicht mehr zu berichten. Nührenberg kommt aus der Stelle Nr. 18 in Lehnstedt und Sandhusen wohl aus der Nr. 12 vom Born. Ich nehme ja an, daß es der Friedrich Sandhusen ist, der um 1846 mit mehreren anderen Männern und Frauen nach Amerika ging. Die Schulchronik berichtet auch von einem Alkoholiker und einem jungen Mann, der 1887 in eine Messerstecherei während eines Tanzvergnügens verwickelt war und eine Frau verletzte. Nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, wanderte auch er nach Amerika aus.
Unser heutiges Schulhaus ist äußerlich gesehen noch das im Jahre 1862 erbaute. Damals war es mit seinen hochgezogenen Giebeln und den hohen Seitenwänden ein stattliches Haus, wenn der Maurer damals schon die Mauern hätte isolieren können, wäre auch heute nach 90 Jahren nichts daran auszusetzen. Es war natürlich wie ein Bauernhaus gebaut, da die Lehrer ja auf Landwirtschaft angewiesen waren. So hatte auch unser Schulhaus im Westgiebel die große Tür, trat der Besucher durch die große Tür ins Haus so befand er sich wie im Bauernhaus auf der lehmgestampften Diele. Rechts konnte er dann in das sonnige Südzimmer eintreten, dahinter lag und liegt auch noch heute ein kleiner Raum über dem Keller, neben diesem Raum lag nach der Diele zu eine schmale Bodentreppe, dann folgte rechts der schmale Wohnungsflur, der ursprünglich bis 1919 auch Schulflur war. Wir kehren zur großen Tür zurück und wenden uns der linken Dielenseite zu. Um 1870 werden uns da aus dem Viehstall heraus wohl Kühe oder Ziegen neugierig ansehen. Ich meine ja, ein Ziegengemecker hat damals den Gast begrüßt. Wenn auch die Schulstelle mit 13 Morgen dotiert war, so waren davon doch nur 2 Morgen in Kultur. An den Stall schloß sich eine schmale Küche an, die von der Backsteinfeuerstelle und dem Backofen mit dem darüber hängenden Rauchfang fast ausgefüllt war. Ein auf Holzbalken liegender Schornstein beförderte den Küchenrauch und Dunst zum First hinaus. Im hinteren Ostteil des Hauses befanden sich die Schulstube, ein Wohnzimmer mit den Fenstern nach Norden und ein Schlafzimmer mit dem Fenster nach Osten. Der Bodenraum des Hauses war nicht ausgebaut, er diente damals der Unterbringung der Ernte. Lehrer Joost berichtet über das Schulzimmer und das Inventar. Er schreibt: “Das betreffende Schulzimmer der Schule zu Lehnstedt ist für die Durchschnittszahl der Schüler groß genug, die Durchschnittszahl beträgt etwa 50. Daßelbe ist 6,5 m breit, 7,5 m lang und 3 m hoch. Zur Lüftung dient eine Röhre, welche in der Mitte der Zimmerdecke angebracht, unten mit einer Klappe versehen ist, die auf- und zugeschoben werden kann und oben zum Dache hinausgeht. Schulbänke mit Tischen, an der Zahl 13, je 3 ½ m lang mit je 3 Dintefässerbehältern. Riegel für Mützen sind nicht vorhanden. Schultafel mit Gestell und Wandtafel sind vorhanden, auch Lehrertisch ohne Verschluß. Schrank ist nicht vorhanden. Ebenso fehlen Globus, Wandkarten, Abbildungen für den weltkundlichen Unterricht, Wandfibel, Geige, Zirkel, Lineal, Rechenmaschine, Bibel und Gesangbuch ist Eigenthum des Lehrers.“ Das schrieb Joost 1873. Wenn wir uns nun den Fußboden der Schulstube aus Ziegelsteinen vorstellen, dann haben wir das Bild des damaligen Klassenzimmers. Das Gebäude war mit Stroh gedeckt. In einem kleinen Nebengebäude von 6 x 2,5 m Größe waren der Schweinestall und die Abortanlage untergebracht.
Um das Haus herum muß es ziemlich wüst ausgesehen haben. Es wurde schon vorher erwähnt, daß auf dem jetzigen Schulgrundstück um 1800 und auch schon früher eine Ziegelei bestand, die Gebäude sind scheinbar auf dem hinteren Teil des Grundstücks in sich zusammengefallen, vor und hinter dem Hause aber lagen alte Sandkuhlen. So wird also das Schulgrundstück einen verwilderten Eindruck bei dem fremden Besucher hinterlassen haben. Anfangs war beim Hause noch nicht einmal ein Garten vorhanden. Lehrer Joost hatte im Forth etwa 7 R Gartenland, das wären also etwa 150 qm. 1868 wird dann beim Haus von der Gemeinde ¼ Morgen kultiviert, diese Arbeit war ja schon 4 Jahre vorher beschlossen worden. Im März und April 68 aber wird sie endlich ausgeführt. Hinrich Tietjen aus Lehnstedt rodet die Stubben, er erhält dafür 6 Thaler. Heinrich Cordes und Eduard Illjes aus Lehnstedt, Joh. Niemeyer vom Born, Joh. Ficken und Hinrich Tietjen aus Neuenhausen holen aus Rechtebe und Wersabe neun Fuder Dünger. Jede Fuhre kommt mit dem Heranschaffen auf 1 Thaler 4 Groschen. Das Geld wurde einem Zuschuß des Konsistoriums in Stade an die Schulgemeinde entnommen.
1870 erhält die Küche einen Fußboden aus Ziegelsteinen, Pape's Ziegelei in Hoope liefert die Steine. Eintausend Steine kosten damals mit Zählgeld, wie es in der Rechnung heißt 7 Thaler und 15 Groschen. Maurer Lüder Leicken aus Hagen verrichtet die Arbeiten. Für ein viermaliges Weißen der Schulstube, für das Legen des Fußbodens, für das Aufsetzen eines Ofens und für die Ausbesserung des Schornsteins berechnet er sich 5 Thaler und 26 Groschen, dafür war er acht Tage beschäftigt.
Am 1. April 1909 wurde Lehrer H. Lohrentz durch den Ortsschulinspektor Herrn Pastor Maaß in Gegenwart des Schulvorstandes und sämtlicher Schulkinder in sein Amt eingeführt. Zwei Jahre hat er hier gewirkt. In der Schulchronik schreibt er von dieser Zeit: „Im Sommer 1909 wurde auf meinen Antrag der alte verfallene Zaun des Schulgartens beseitigt, ebenso wurde das Land davor planiert, und der Schulgarten um dieses Stück vergrößert. Der ganze Garten wurde dann von dem Zimmermann Tietjen mit einer Einfriedung versehen.“ (Anmerkung des Chronikschreibers: Der ganze Garten reichte an der Nordseite des Schulhauses bis zur Einbuchtung der Weißbuchenhecke hinter dem Mullhaufen, in Verlängerung dieser Westostlinie führte der Zaun durch das Grundstück.) Lohrentz schreibt weiter: „Der neuhinzugekommene Teil wurde von mir unter eigene Kosten in einen Ziergarten verwandelt. Damit waren die unästhetischen Kartoffelgruben, Wasserlachen und Sandhügelketten beseitigt, die außerdem eine beliebte Abladestelle für allerlei Gerümpel und Schutt waren, wodurch der Anblick dieses Platzes mitunter geradezu widerlich wurde.“
Lohrentz war ein großer Tierfreund. In der früheren Weide des Schulgrundstücks, dem jetzigen Gemüsegarten, hielt er sich Hühner, Puter, Gänse und Enten. Nachbar Tietjen meinte einmal zu mir darüber: „Ja ja, das rentierte sich nur nicht, denn Lohrentz fütterte immer nur aus der Apothekertüte.“ Er zeigte sich auch gern hoch zu Roß. Die Gebrüder Honnen auf dem Heesen ließen ihre vielen Pferde gerne durch ihn bewegen. Als Lohrentz dann mal äußerte, er würde auch das Pferd zum Hengst reiten, sticht sie der Hafer. Sie lassen ihm auf der dunklen Diele einen Wallach satteln, setzen ihn auf den Gaul und Klabaster, Klabaster reitet Lohrentz in weißer Hose und blauer Jacke nach Uthlede zum Hengst. Er hört auch nicht des Jungen warnenden Ruf: „Herr Lohrentz, wohin wollen Sie mit dem Wallach?“ Wie der Empfang auf der Hengststation war, kann sich jeder wohl vorstellen! Am 8. Sept. 1911 verließ Lohrentz Lehnstedt. Er hatte sich auf 2 Jahre vom Schuldienst beurlauben lassen, um die Kunstschule in Hamburg zu besuchen. Wie er schreibt, „um mich dort für das Examen eines akademischen Zeichenlehrers an höheren Lehranstalten vorzubereiten.“ Sein Nachfolger wurde der Schulamtsbewerber H. Deike aus Jeinsen (Hannover), der blieb aber nur bis zum 1. April 1912, da mußte er seiner Militärdienstpflicht nachkommen.
Deikes Nachfolger als Lehrer an der hiesigen Schule wurde Theodor Nagel aus Offenwarden, er wurde am 1. April vom Ortsschulinspektor Herrn Pastor Maaß in sein Amt eingeführt. Die Klasse erhielt zu seiner Zeit den hohen Schrank. Im Jahre 1916 wurde Nagel zum Kriegsdienst eingezogen, am 17. Juli 1917 ist er bei Monchy in Frankreich gefallen. Bis zum 1. April 1918 war die Stelle hier unbesetzt, da die jungen Lehrer alle eingezogen waren. Der Unterricht wurde notdürftig aufrecht erhalten durch Vertretungen. Zur Hauptsache sind sie wohl geleistet durch Lehrer Menke.
Zum 1. April 1918 wurde die Schulstelle hier neu besetzt. Als der Schreiber dieser Chronik Ende März 1918 aus dem Lazarett Greifswald als kriegsdienstuntauglich entlassen war und seinen kurzen Erholungsurlaub nach einjährigem Lazarettaufenthalt in seinem Elternhaus zu Wiegersen Kreis Stade verbrachte, erhielt er dort die Zuweisung der Schulstelle Lehnstedt mit dem Zusatz, den Unterricht sofort aufzunehmen. Ich hatte mich aber vorerst noch bei meinem Truppenteil dem Jägerbatt. 2 Fürst Bismarck in Kulm (Westpr.) zu melden. Von dort wurde ich als arbeitsverwendungsfähig im Beruf beurlaubt. Die Reise nach hier war nicht einfach, wenn auch die Entfernung gering ist. Nach einer Übernachtung in Bremervörde erreichte ich am zweiten Tage mit der Kleinbahn Wulsdorf-Farge erst Rechtebe. Da ich eine Beinverletzung hatte und noch nicht so recht laufen konnte, hatte mir der Gemeindevorsteher Dietrich Gerken einen Wagen geschickt. Der Fuhrmann Johann Ficken - Lehnstedt Nr. 2 - machte mich unterwegs mit den Namen der Familien bekannt. Als ich dann von Uthlede her mein Wirkungsfeld auftauchen sah, ganz von Eichen umgeben, daß die Häuser darin versteckt lagen, wie ich dann den Düngel vor mir liegen sah, wurde mir klar: Hier wird deine neue Heimat. Da meine Möbel noch nicht hier waren, besorgte Dietrich Gerken mir noch am Nachmittag des Tages eine Schlafgelegenheit. Da er sie von Wulsbüttel holen mußte, besuchte ich auch sofort Pastor Maaß, der sich sofort seinen Talar umhing und mich vereidigte. Dann aber schlug er die Amtstracht um sich und meinte: „Früher paßte mir der Talar, jetzt kann ich mich drin einwickeln, so mager bin ich geworden in der Kriegszeit.“ Fritz Menke lernte ich auch noch kennen, er war am Hafersäen. Sein Schwager Hanken aus Heine machte die Einsaat, Fritz Menke aber ging mit der langen Pfeife, aus der er Buchenlaub qualmte, hinter der Egge her. Zum erstenmal verbrachte ich die Nacht unter dem Dach des Hauses, das mich auch heute noch am 19. März 1950 beherbergt.
Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, besuchte ich den stellvertretenden Vorsteher Dietrich Mehrtens, der noch für den erst kürzlich vom Militärdienst entlassenen Dietrich Gerken die Geschäfte führte. Mehrtens saß mit Johann Nührenberg zusammen, sie wollten ein Urlaubsgesuch aufstellen, sie hatten die Flasche zur Hilfe genommen. Ich kam ihnen gerade recht, so haben wir drei dann die Arbeit gemacht. Dann besuchte ich noch den Vorsteher von Neuenhausen. Bei Emil Cordes aß ich den Sonntagsbraten. Am nächsten Tag führte mich Herr Pastor Maaß in mein Amt ein.
Im Jahre 1932 fingen wir mit der Urbarmachung der alten Ziegeleianlage an, es war die schwerste Arbeit, denn die Anlagen, die um 1800 und vorher schon in Betrieb waren, hatte man in sich zusammenfallen lassen. Sie zeichneten sich nur als Hügel im Gelände ab. Da es damals überall große Arbeitslosigkeit gab, fand ich Helfer genug für die Arbeit. 1932 und 1933 haben wir etwa 1500 qm zwei Spaten tief umgebuddelt, dabei sind die Brennöfen freigelegt. 150-200 Fuder Ziegelsteinbrocken sind entfernt. Beim „Burwarken“ sind diese Brocken auf die Wege gefahren worden, um sie zu befestigen. Mancher Schuljunge hat mir fleißig geholfen. So ist denn endlich das ganze Schulgrundstück bis auf eine kleine Fläche, die ich mit Absicht als Naturgarten liegen ließ, kultiviert. Die Arbeit an diesem Stückchen Erde hat mich hier festgehalten, den Garten fand ich verwildert vor, wenn man da überhaupt noch von einem Garten reden kann, denn von ihm war weiter nichts vorhanden als die Einzäunung und die Hecke, die wild in die Höhe geschossen war. Das Gartenland war nicht mehr zu erkennen und lag, wie ich schon angegeben habe, an der ungünstigsten Stelle. Es standen auch Obstbäume im Garten, aber die Früchte waren klein und hart, ein Boden der nicht bearbeitet und gepflegt wird, trägt auch keine Frucht. Und ein Obstbaum, der nur in den Boden gesteckt wird und dann ohne Wartung bleibt, wird seinen Besitzer kaum durch eine Ernte erfreuen. Die Gartenarbeit hat mir viel Freude gemacht, hier fand ich Erholung nach der Arbeit in der oft stickigen Schulluft.
Gefesselt hat mich auch die Lehnstedter Erde, die mir durch die Funde, die meine Schüler und ich aus ihr auflasen, immer wieder einen Blick eröffneten in die Jahrtausende alte Geschichte des Dorfes, das mir wirklich Heimat wurde. Der erste Gedanke, der an dem schönen Apriltage 1918 mein Gehirn durchschoß, als ich von Uthlede her Lehnstedt und Neuenhausen vor mir auftauchen sah, breit gelagert auf dem Geestrücken, hat sich mir erfüllt. Nach den unruhvollen Jahren des ersten Weltkrieges, nach der einjährigen Lazarettzeit fand ich hier Arbeit und Ruhe. Mein Leben ist nicht leicht gewesen, das lindenumrauschte Dach konnte das Schicksal von meinem Leben nicht fernhalten, meine erste Frau Annaelse mußte ich am ersten Weihnachtstag 1935 aus dem Hause tragen, um sie ins Krankenhaus zu bringen, dort starb sie am dreißigsten Dezember desselben Jahres. Eine wirkliche Mutter wurde meinen drei Kindern meine zweite Frau, wir heirateten am 29. Oktober 1938. Es schien alles gut zu sein, da kam der Krieg. Sicher seiner Rückkehr verließ uns unser lieber Jürgen, am 14. September 1943 soll er in Rußland an einer schweren Verwundung gestorben sein, heute nach sieben Jahren kann ich es noch nicht fassen.
Danken will ich hier auch all den Lehnstedtern, die uns über die Hungerjahre 1945-47 hinweggeholfen haben, sie taten an uns, was man nur dem Freunde tut. Wenn der Chronikschreiber auf dieser Seite von sich berichtet, dann tut er das nur, weil er sich als Eingesessener fühlt.